Dr. Katrin Arrieta

Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Sighard Gille – Die Magd“ in der Galerie Rose in Hamburg am 21.09.2006

Seit den 70er Jahren hat Sighard Gilles malerischer Auftritt vor allem im Osten Deutschlands Gewicht. Er ist einer der markantesten Vertreter der Leipziger Schule in ihrer dritten Generation - schon damals war das künstlerische Pflaster dieser Messestadt, die zweimal im Jahr ein internationales Gesicht zeigte, hitzig, man malte nicht nur Spektakuläres, sondern rieb sich aneinander mit weltanschaulicher Spitzfindigkeit und Leidenschaft. Symptomatisch für jene Jahre sind die vielen Karnevalsbilder, die, angelehnt an das große Vorbild Otto Dix, das Thema zivilisatorischer Selbstbelustigung in einen apokalyptischen Zusammenhang stellten. Obwohl solche Bilder sicher zuvorderst die geschlossene Gesellschaft in der DDR meinten, die zunehmend als etwas unerträglich Groteskes wahrgenommen wurde, hatten sie doch einen darüber hinaus greifenden Bezug zu jenen schmerzhaften Seiten gesamtdeutscher Geschichte, die diese Groteske mit hervorgebracht hatten – in solchem Sinne war Leipziger Kunst politisch nach innen und außen, das vor allem im Widerspruch gegen die Erwartungen der damaligen Machthaber. Wenn der Leipziger Kunstwissenschaftler Peter Guth 2003 feststellte, Gilles Malerei bewege sich möglicherweise ungewollt in der Tradition der Aufklärung, so meinte er damit diese die Erfahrung der Barbarei umgreifende historische Anbindung – in der Tat transportiert der 1941 Geborene seine ästhetischen Botschaften in einen oftmals metaphorisch verschlüsselten Überlebens-Kontext, wo Gefahren und Schönheit mit äußerster Wucht aufeinander treffen. Jan Nicolaisen sprach 2004 von „Entzündungsherden“, die der Künstler schafft – das beschreibt genau die dramatische Art der Zuspitzung seiner Figurenmalerei im Farblichen und im Anatomischen, wie er sie gerade in den letzten Jahren immer weiter vorantreibt. Man hat den Eindruck, dass die Bilder dieses Künstlers an schreiender Glut noch zunehmen - als habe er den Gipfel seiner Möglichkeiten erst zu erklimmen, wütet und wuchtet er wie ein Junger.

Dabei ist nichts zufällig – trotz der großzügigen Art Farbe aufzutragen: mit breiten Pinseln, Spachteln, mit den Fingern oder direkt aus der Tube – die expressiven aber keinesfalls ekstatischen Farblandschaften seiner Bilder sind mit letzter Könnerschaft durchkomponiert und –konstruiert, dabei bleibt er seiner Herkunft aus einer klassischen Schule intensiven Naturstudiums kaum etwas schuldig. Sighard Gille weiß genau, wie Farben gesetzt werden müssen, damit Körper sich runden und Raum entsteht, er beherrscht die ganze Klaviatur der Fleischtöne, kennt sie bei Hitze, im scharfen Schlagschatten und bei kühlen Temperaturen - aber das ist nicht alles: Farbe hat in seinen Arbeiten hohen Gefühls- und symbolischen Wert. Er verlässt sich bei ihrem Einsatz auf die universale Gültigkeit seiner persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen, aber auch Traditionen sind wichtig, wie sie etwa aus der Sakralkunst überliefert sind – so spielt in immer wieder anderen Fassungen der Gegensatz zwischen Blau und Rot eine herausragende Rolle – als Farben des Mantels Mariä spiegeln sie in der christlichen Kunst das aufeinander Angewiesensein von Geist und Sinnlichkeit - ein Grundmotiv auch Gilles und eine der Quellen für die gleichsam symphonischen Entfaltungen seiner Farbwelt, die von den Inhalten seiner figürlichen Inszenierungen nirgendwo getrennt werden können. In dem Gemälde „Die Magd“, das dieser Ausstellung den Titel gibt, ist mit der weiblichen Gestalt im oberen Teil der Szene die Gottesmutter unübersehbar zitiert - mit Kopf und Haar scheint sie von einem bestirnten Himmel herabzustrahlen, während ihre prallen Brüste als das Corpus Delicti des grotesken Geschehens eine verlockend erotische wie auch bedrohliche Präsenz haben. Der geschundene Don Quichote – er ist der Hauptheld einiger weiterer, teilweise erst konzipierter neuester Arbeiten Gilles – ist auf ein strahlendes Gelb gebettet, das an den Goldgrund christlicher Andachtsbilder erinnert – die Fabel des Bildes ist also vielschichtig, von der pikanten Verwechslungsszene aus dem Roman des Cervantes gelangt man in den Kontext einer christlichen Beweinung und von dort in die Gegenwart des modernen Krieges, denn was ist der tretende Geselle mit der khakifarbenen Schiebermütze anderes als ein im Stechschritt marschierender Soldat? Wie wenige verrät dieses aktuelle Werk Gilles den nachhaltigen Eindruck Max Beckmanns auf den Künstler – des Leipzigers Beckmann, der wie kein zweiter die Gefährdung der menschlichen Kreatur durch die Bitternisse sozialen Beieinanders zum Ausdruck brachte. Die Art und Weise, wie Sighard Gille in dieser turbulenten Darstellung Profanes mit Sakralem, Tragisches mit Komischem, Terror mit Lust verbindet und dieses alles in ein farbliches Gleichnis umsetzt ist typisch für seine Methode einer künstlerischen Integration von Gegensätzen – insofern ist seine Malerei nicht nur aufklärerisch sondern auch dialektisch zu nennen.

Peter Guth benutzte das Wort „Aufklärung“ anlässlich der Ausstellung „Mundköpfe“ im Kulturspeicher Oldenburg, wo Gille die wichtigste Bildserie seiner jüngsten Schaffensjahre erstmals komplett zeigte. Wie schon die in den Jahren vorher entstandene Serie der „Tränenden Madonnen“ - Gille hatte sie u. a. 2002 in der Kunsthalle Rostock vorgestellt – greifen auch die „Mundköpfe“ auf die Tradition der Masken als ältester Form des Kultbildes zurück. Die klassische Moderne hatte sie wiederentdeckt und Picasso bezog sich darauf schon vor seinen „Weinenden Frauen“ der 30er und 40er Jahre – zweifellos gehören diese eindrucksvollen Meisterstücke der Gefühlsdarstellung wie auch der berühmte „Schrei“ Edvard Munchs oder die Beweinungen und Schmerzensmänner christlicher Kunst zu den Anregern der Gilleschen Serien. Das Weinen, Schreien und Singen, um das es hier geht, meint eine öffentlich zelebrierte Ekstase, wie sie nur auf eingegrenzten Feldern der uns prägenden westlichen Kultur zugelassen und ein Kernproblem des modernen Künstler-Seins ist. Die Pop-Ikonen seiner Generation sind beispielhaft für die heute saturierten Formen solcher Grenzüberschreitungen. Ganz sicher setzen die „Tränenden Madonnen“ wie auch die „Mundköpfe“ Gilles sein Auswilderungs-Thema der 90er Jahre fort, wo er malerisch das brisante Spannungsfeld zwischen äußerlicher Freiheit und den mit ihr einher gehenden Ängsten wie Manipulierungen aufrief.

All diese Themen sind ein Ausdruck von Unruhe - Unruhe des Künstlers vor einer wankenden Schöpfung. Im Zentrum der Kunst Gilles steht vielleicht auch deshalb der menschliche Körper als erster wie letzter Gegenstand sinnlicher Gewissheit. Dabei erkundet er Leibliches in allerlei Zuständen: In seiner Masse, Tektonik und Farbe, aber auch im Hinblick auf das, was Welt ist oder sein kann – hierfür ist ihm der Leib Metapher. Was Wunder, dass Frauen im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit stehen: dem Maler sind sie Herrinnen der Schöpfung trotz seines deutlich virilen Schauens. Natürlich sieht und fühlt er erotisch, doch sein mitunter gierig anmutender Zugriff auf weibliches Fleisch hängt auch damit zusammen, dass es Welt für ihn darstellt, nirgendwo sonst kommt der Kosmos seiner blühenden Farbpalette derartig reich zum Tragen. Setzt man dieses voraus, so zeigt sich die so frivol wirkende Serie der „Aussteigenden“, mit der er dem großen Frauenmaler Renoir seine Reverenz erweist, nicht nur als ein herrliches Fest der Sinne, sondern auch als ein Hinweis auf die dem zugrunde liegende Hybris.

 

© Katrin Arrieta

  zurück >>